Mayer Levi-Lieder
Vorwort
Drei Lieder nach Melodien des Esslinger jüdischen Kantors Mayer Levi (1814-1874)
für
hohen Bariton und Streichquartett
(Jitgadal, Adon olatn, Ki el poel)
Über meine Mayer Levi-Lieder für Tenor und Streichquartett
Mayer Levi (ca. 1814-1874) verbrachte den größten Teil seines Lebens in Esslingen am Neckar. Nach seiner Schulzeit in der Jüdischen Schule in Esslingen mit Unterricht in jüdischen und säkularen Fächern studierte er von 1828-1831 am Königlichen Lehrerseminar Esslingen. Sein Berufsziel war jüdischer Kantor (Chasan), und dafür benötigte er ein staatliches Lehrerexamen. Dieses enthielt für ihn als Juden das Fach jüdische Theologie inklusive kantoralen Gesang (Chasonut), ebenso wie weltliche Fächer, zu denen auch eine gründliche musikalische Ausbildung gehörte nach dem Vorbild des evangelischen Volksschullehrers. Von letzterem wurde erwartet, dass er neben seinem Schuldienst den Kirchenchor leiten und am Sonntag im Gottesdienst die Orgel schlagen konnte.
Dabei war Mayer Levi an der zeitlichen Bruchstelle einer dramatischen Veränderung der Ausbildung zum Chasan. Vor seiner Zeit erfolgte die Weitergabe des Repertoires der liturgischen Gesänge von Lehrer zu Schüler, wobei letztere meist noch Knaben waren, nach dem Prinzip des Hörens und Wiederholens, also in rein mündlicher Tradition. Durch die strenge Regulierung des Ausbildungsprozesses in Deutschland im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts verschwand dieses Lehrlingssystem.
Obzwar im Lehrplan des Seminars zehn Stunden pro Woche für ‚Jüdische Studien‘ vorgesehen waren, entfielen auf die Chasonut nur zwei davon. Daher setzte Mayer Levi seine Ausbildung in Chasonut außerhalb des Seminars bei Kantoren der ‚alten Schule‘ fort, sodass er am Schluss über zwei musikalische Ausbildungen verfügte – eine ‚moderne‘, schriftlich basierte nach dem Modell des evangelischen Kirchenmusikers – und eine ‚alte‘, mündlich basierte nach dem Modell der alten jüdischen Chasonut.
Nach Abschluss des Examens in Esslingen und Anstellungen als Lehrer und Chasan an verschiedenen jüdischen Gemeinden Württembergs kehrte Mayer Levi 1844 nach Esslingen zurück und wurde Lehrer und Chasan der Esslinger jüdischen Gemeinde sowie des Esslinger jüdischen Waisenhauses. Ab 1845 erhielt er außerdem eine Anstellung als Lehrer für Chasonut und liturgische Texte am Esslinger Lehrerseminar. Diese Tätigkeiten übte er bis zu seinem Tode 1874 fast ohne Unterbrechungen aus. Während seiner ganzen Zeit in Esslingen lebte er in der Esslinger Synagoge Im Heppächer.
Aufgrund der Veränderung in der Ausbildung zum Chasan und der damit verbundenen Verlagerung auf schriftliche Vermittlung beschloss Mayer Levi, für seine Studenten am Lehrerseminar die jüdischen Liturgien in allen Details
aufzuschreiben. Dabei schrieb er die Noten anstatt von links nach rechts von rechts nach links auf, gemäß der Leserichtung der hebräischen Schrift. Damit bilden Text und Musik eine Einheit. Hinzu kamen häufige Anweisungen zur Ausführung von Liturgien, in deutscher Frakturschrift oder hebräisch.
Glücklicherweise sind vierzehn handschriftliche Bände von Mayer Levi erhalten, zwölf davon in den USA und zwei in Deutschland, an der Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Das erhaltene Kompendium deckt den größten Teil des liturgisch-jüdischen Jahres ab, besonders die hohen Feiertage (Rosch Haschana und Jom Kippur). Quasi alle Melodien stammen aus der mündlichen Tradition der süddeutschen Juden. Keine davon wurde von Mayer Levi ‚neu‘ komponiert, aber das meiste durch ihn gemäß seiner Vorstellung und in seinem Stil modifiziert und umgearbeitet.
Dies lässt sich an zwei der drei von mir ausgewählten Melodien nachweisen, deren Vorlage sich in Abraham Baer’s ‚Der practische Vorbeter‘, Gothenburg 1877) befindet. Die Melodie zu ‚Adon olam‘ bei Baer: S. 222, Nr. 996, ‚als Gesang zum 1. Neujahrs Morgen‘. Bei Mayer Levi: ‚Melodien für den israelitischen Gottesdienst am Neujahrsfeste und Versöhnungstage, S. 2).
Die Melodie zu Ki el (bei Baer zum Text ‚Jigdal‘, dort S. 221, Nr. 990, ebenfalls zum Neujahrs Morgen. Bei Mayer Levi: ‚Tefillat Schacharit Lerosch Haschana, S. 90).
Die Melodie ‚Jitgadal wejitkadasch‘ (Kaddisch) stammt aus dem Band für den Versöhnungstag, S. 108, und enthält eine Überschrift:
‚Zum Andenken an Herrn S.S. H. (?) (vermutlich Samuel Heiden, 1834 in Esslingen – 1895 in Stuttgart; Rechtkonsulent und viele Jahre der Gemeindepfleger der israelitischen Gemeinde in Esslingen sowie – nach Bedarf – als Aushilfs-Chasan tätig), der einst folgende Melodie als בעל
תפלה in Esslingen sang‘.
Wohl aus Gefälligkeit hat Mayer Levi die Melodie in sein Kompendium aufgenommen, da sie in Stil und liturgischer Tonartbehandlung von den andern Melodien abweicht – ‚assimiliert‘ ist. Die beiden andern Melodien vereinen – in Mayer Levi’s Bearbeitung – auf wunderbare Weise Jüdisches und Nichtjüdisches. Der jüdische Anteil bildet den verborgenen Hintergrund, auf dem sich vordergründig eine ‚christlich‘ inspirierte, periodenhafte Melodik entfaltet, innerhalb scheinbar kirchlich-modaler Tonalität. Indessen bilden das tonale Gerüst der Gesänge sogenannte ‚Steiger‘ , das sind jüdische Skalen.
a) Adon olam mit ‚Ahawa-Rabba-Steiger‘, dessen Verwendung beim Morgengebet (Schacharit) am Schabbat, besonders an den hohen Festtagen, üblich ist, neben weiteren zutreffenden Merkmalen.
b) Ki el, bei Baer mit Text ‚Jigdal‘ als dichterische Form der dreizehn Glaubensartikel des Maimonides mit ‚Magen-Awot-Steiger‘ (aus dem Gebet am Schabbat-Abend nach der Amida, den achtzehn Fürbitten), bei Mayer Levi vor dem Schma Jisrael stehend, dem zentralen jüdischen Glaubensbekenntnis an den einen Gott. Der Magen-Awot-Steiger hat unter anderem lyrischen Moll-Charakter.
Die Bewahrung des Eigenen mit der Fähigkeit, fremde Merkmale zu integrieren, bildet den wahren Wert dieser Gesänge heute. Sie zeugen von Mayer Levi’s tiefer Frömmigkeit, seinen großen Kenntnissen übers Judentum, seiner hohen musikalischen Begabung und Intelligenz, aber nicht zuletzt auch von seinem Fleiß und Verantwortungsbewusstsein seinen jüdischen Studenten gegenüber. Als Jude war Mayer Levi außerdem ein kleiner aber wichtiger Teil des damaligen reichen, evangelisch geprägten Esslinger Kulturlebens.
Aus jüdischer Sicht heute sind seine Gesänge aber Zeugnisse einer untergegangenen, durch die Nazis zerstörten süddeutsch-aschkenasischen Kultur. Meine Bearbeitungen sind ein Versuch, über stilistisch an die Melodien angeglichene Bearbeitung als Kunstmusik – nicht als Ersatz für jüdische Liturgie – einen Widerschein jener Esslinger jüdischen Kultur hörend ahnen zu lassen, wohl wissend, dass es davon keinen Wiederschein mehr geben wird.
Die beiden Steiger (jüdischen Skalen):
[Die römischen Ziffern bedeuten Skalenstufen, die schlussbildend sind.
Die ‚clausula in mi‘ ist eine hier mögliche, aber sehr ‚christliche‘ Schlusswendung]
Stilistik Mayer Levi-Lieder
Die Lieder sind im Stil der Melodien des jüdischen Kantors Mayer Levi (+1873) und frühromantisch bearbeitet. Sie wenden sich an alle Musikliebhaber mit dem Ziel, Esslinger jüdische Musik kennen zu lernen.