Echos

Vorwort

ECHOS ist dem Ensemble KREISLERIANA (Nora Chastain – Violine, Omar Zoboli – Oboe und Friedemann Rieger – Klavier) gewidmet und im Jahr 1990 komponiert. ECHOS läuft in drei Ebenen ab: die oberste Ebene besteht aus einer Abfolge von überwiegend stark modifizierten Zitaten; darunter liegt die Ebene autonomer Klangprozesse und die unterste Ebene bildet ein psychisch-gruppendynamisches Handlungsgeschehen innerhalb des Instrumentaltrios. Das Trio wird von einem Dirigenten geleitet, der sich im Verlauf von ECHOS auch an Klangaktionen beteiligt.
Die oberste Ebene von ECHOS bezieht sich durch Auswahl und Abfolge der Zitate auf die politischen Ereignisse des Jahres 1990, vor allem auf die deutsche Wiedervereinigung. Sie ist für mich als Deutschen ein Datum bewegten Nach-sinnens über unsere neuere Geschichte und Gegenwart. So sollen mehrere Fragmente aus Webers Freischütz-Ouvertüre den idealistischen Aufschwung und nationalen Optimismus der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach den Schrecken der Napoleonischen Kriege ausdrücken. Dem gegenüber steht eine Passage aus Mahlers ‚Lied von der Erde‘: seine Musik soll an die untilgbare Schuld besonders gegenüber den Juden erinnern. Akkordschläge aus Wagners ‚Ring des Nibelungen‘, direkt auf das Mahler-Zitat folgend, symbolisieren brachiale teutonische imperiale Wahnvorstellungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts.

Diesem auf die Vergangenheit gerichteten Vorstellungskreis zur Seite steht ein Wort, das aus unserem gegenwärtigen (1990) Weltgefühl nicht mehr verdrängt werden kann: ‚Tschernobyl‘ ist zum Inbegriff der immer größeren Gefährdung der Welt durch unkontrollierbar gewordene Großtechnologien geworden. So erscheint das Wort ‚Tschernobyl‘ etwa in der Mitte von ECHOS zunächst instrumentalisiert, wobei der Anfangszischlaut mit Schlaginstrumenten ausgeführt wird, die die Spieler von da an immer mehr und ausschließlicher bedienen müssen. Am Schluss von ECHOS gar wird – als äußerste inhaltliche Zuspitzung – ohne jegliche Instrumente von Pianist und Oboist der Satz geflüstert: ‚denkt an Tschernobyl‘.

Die Ebene der Klangprozesse in ECHOS lässt sich in ihrer Sukzession folgendermaßen beschreiben:
a) gehaltene Zisch-und Reibegeräusche sowie vereinzelte Geräusch-Impulse, alle mit etwas Tonhöhe; überwiegend crescendierend.
b) Entstehung und Ausprägung einer Tonhöhengestalt mit tonhöhenmäßigem und dynamischen Aufstieg-Haltepunkt-Abstieg; Hintergrund mit repetierten Klangfiguren.c) echoartige Akkordrepetitionen, zunehmend geräuschhaft.
d) zischhafte Echostrukturen und Sprache, kombiniert mit Impulsrepetitionen (etwas hölzern klingend).
e) unregelmäßige und regelmäßige harte Holz-Impulsrepetitionen, kombiniert mit Zischgeräuschen und Sprache.
f) gehaltene Zisch-und Pfeifgeräusche, Atem.
g) gehaltene Tonhöhen, dann kurze Tonhöhen, dann kurze impulshafte Reibe-bzw. Pressgeräusche.
h1) gleichmäßige, hölzerne Impulse kombiniert mit Impulsrepetitionen, kurzen Zisch-und Atemgeräuschen, Einzelton-Impulsen sowie kurz gehaltenen perforierten Tonhöhen bzw. Geräuschen, Sprache.
h2) Sprache und Atem, kombiniert mit Holzimpulsen bzw. kurz gehaltenen perforierten Holzgeräuschen.
h3) Atem.

Eine Untermenge der Klangprozesse in ECHOS stellt das Tempo dar. Dieses beschleunigt sich während des ganzen Stückes, und zwar umso mehr, als das Stück seinem Ende zugeht. Da am Anfang die Beschleunigungen – übrigens mit Hilfe eines von mir entwickelten Computerprogrammes – subtil auskomponiert sind und ab dem zweiten Drittel alle Accelerandi frei gespielt werden, gewinnt der Dirigent eine weitere optische Anzeigefunktion. Anfangs bleibt der Schlag ruhig mit Ausnahme der Stellen mit Tempowechsel. Dann aber gerät auch der Dirigent – indem die immer extremeren Accelerandi ausdirigiert werden – in den Sog des allgemeinen Beschleunigungsprozesses, er wird zum optischen Indikator des Zeitverlaufs und ist diesem genauso unterworfen wie die Spieler. Daher ist es nur konsequent, wenn er sich – als Mitspieler – ebenfalls an Klangaktionen beteiligt.
Die unterste – und innerste – Ebene von ECHOS lässt sich einmal als Abfolge bestimmter Spielerkombinationen beschreiben, zum andern als Beschreibung der psychischen Befindlichkeiten an den verschiedenen Stellen von ECHOS. Die wesentlichen Stationen der Spielerkombinationen sind folgende:
a) Oboe + Violine; b) Oboe + Klavier; c) Klavier + Violine; d) alle drei, Klavier dominierend; e) Oboe + Klavier, Klavier begleitend; f) alle drei Instrumente + Dirigent; g) Oboe + Klavier + Dirigent gegen Violine; h) Violine allein (Kadenz); i) Oboe + Klavier, Violine allein; k) Oboe + Klavier + Dirigent; l) Dirigent allein.


Die psychische Befindlichkeit der einzelnen Stellen in ECHOS resultiert sowohl aus der jeweiligen Spielerkombination als auch aus dem aktuellen Klangmaterial. Vor allem Letzteres bewirkt in zunehmendem Maße, dass die Spieler – besonders die Violine – auf ihr Material quasi theatralisch zu reagieren beginnen und so aus (fast) autonomer Kammermusik ein Musiktheaterstück sich herauszuschälen beginnt, dem nur noch die schauspielerische Aktion hinzuzufügen wäre.
Da sich nämlich das Klanggeschehen immer mehr in Richtung auf nur perkussiv erzeugbare Geräusche hin entwickelt, sodass sich schließlich das Klaviertrio in ein Schlagzeugtrio verwandelt hat, entsteht an diesem Punkt die ästhetische Notwendigkeit, sich mit der Abnormität dieses Zustandes auseinander zu setzen und die Auseinandersetzung mit solchem musikalischen Ausnahmezustand als Inhalt des fortlaufenden Stückes ECHOS zu wählen. Besonders die Geige ist nicht gewillt hinzunehmen, dass sie der Konsequenz eines bestimmten Klangprozesses und Klangmaterials wegen auf ihr Geigenspiel verzichten solle um Schlagzeug zu spielen. Sie will ihrer entfremdeten musikalischen Gegenwart entfliehen, will – eine Sologeigenkadenz anstimmend – wieder zurück in die seligen Zeiten fraglosen Musizierens auf dem geliebten Instrument. Doch am Ende wird auch sie Schlagzeug spielen müssen, es gibt kein Zurück, keinen Ausstieg aus der Realität. Dafür rächt sie sich, indem sie am Ende des Stücks, als Furie mit dem Reibestock, die beiden andern Spieler vor sich hertreibt, dem Ende von ECHOS entgegen.

Hiermit schließt sich der Kreis, denn nun wird auch sichtbar, dass alle drei Kompositionsebenen zwar separat voneinander betrachtet werden können, alle aber miteinander eine untrennbare Einheit bilden. Die Abfolge der Zitate, ihre jeweilige Gestalt bedingt die Materialauswahl und den Klangprozess. Der Klangprozess bewirkt zunehmend gruppendynamische theatralische Aktionen, die wiederum Auswahl und Abfolge der musikalischen Grundgestalten zu steuern beginnen…
Doch nicht nur diese Mehrschichtigkeit ist es, die mir beim Komponieren vorschwebt, sondern auch ein Wechselspiel von äußeren, der Realität entstammenden Impulsen und inneren psychischen Regungen, von historischen musikalischen Erfahrungen und Techniken und musikalischer Gegenwart. So wird ECHOS zum geistigen Echo auf Dinge, die mich beim Komponieren dieses Stückes – im Jahre 1990 – bewegt haben.

Georg Wötzer

Echos

Theatralische, teilweise algorithmisch komponierte Musik für kleine Besetzung mit Dirigent,
der ebenfalls Teil der theatralischen Aktionen ist. Die Klangwelt entfaltet viele
Spieltechniken, wie sie um 1990 in Konzerten für Musikexperten von diesen erwartet wurden.
Verstörend ist nur das Wort ‚Tschernobyl‘, das immer häufiger auftaucht, und daher sogar der
normale Hörer sich für das Stück interessieren könnte