Gegenstück

Vorwort

Gegenstück wurde 1997 für meinen damaligen Studenten und Musiktheorie-Tutor Frank Scheffler an der Musikhochschule Stuttgart zu seiner Kirchenmusik (A)-Abschlussprüfung komponiert.
Das musikalische Material von Gegenstück für Orgel (ein Organist und zwei mitspielende Registranten) leitet sich aus drei Gestaltbildungen ab:
– regelmäßige Akkordrepetition
– vielstimmige, in sich bewegte, klangräumlich stationäre Klangfläche
– in sich verschachteltes Arpeggio

Daraus werden fünf Varianten durch Kombination obiger Gestaltbildung gewonnen:
– gleichmäßig wiederholte Echo-Akkordschläge mit überlagerten Akkordbrechungen
– tonräumlich sich bewegende steigende Klangfläche, in sich unbewegt und durch unregelmäßig fallende Melodielinie kontrapunktiert
– Arpeggien steigend, dann tonräumlich sich bewegende Klangfläche, dann Arpeggien fallend
– sich über Orgelpunkt bewegende Akkordrepetitionen
– zeitlich und in Klangdichte unregelmäßige Repetitionen

Daraus wurden dann nochmals dreizehn weitere Gestalten durch Variierung der beschriebenen Gestalttypen abgeleitet. Diese einundzwanzig Gestalten wurden alle ‚von Hand‘ komponiert. Die zweiundzwanzigste Großgestalt bildet den Schlussteil von Gegenstück. Aus diesem und den zuvor beschriebenen Gestalttypen wurden alle Kerngestalten von Gegenstück entwickelt.
Alle einundzwanzig Gestalten und der Schluss von Gegenstück sind fortlaufend vermittelt durch Übergänge, die algorithmisch erzeugt bzw. später teilweise durch Stille ersetzt wurden. Die klingenden Übergänge sind mittels eines algorithmischen Systems komponiert, das meinen technischen Stand von 1997 widerspiegelte, mittlerweile aber erheblich weiter entwickelt wurde (Sprache: VisualWorks-Smalltalk).
– Die Übergänge in Gegenstück sind immer nach demselben Prinzip gemacht: eine Ausgangsgestalt wird mittels eines Tools in mehreren Phasen ausgeblendet, die folgende Gestalt ebenso eingeblendet und beide Prozesse dann überlagert und feinsynchronisiert.
– Die Anordnung der Gestalten bezogen auf die Gesamtform von Gegenstück folgt dem Prinzip zunehmender Dichte, dasselbe gilt für die Übergänge. Gleichzeitig wurde Gegenstück in vier große zeitliche Abschnitte untergliedert
und einem strengen Zeitsystem unterworfen: Teil A hat die Ausdehnung von 180 Sekunden, Teil B von 240 Sekunden, Teil C von 120 Sekunden und der Schlussteil von 90 Sekunden, bei unterschiedlichen Tempi. Da auch die von Hand komponierten Gestalten wegen der Übergänge digitalisiert werden mussten, war es ein leichtes, ein solch komplex organisiertes Zeitsystem am Rechner zu realisieren, also ein Zeitsystem, das nicht von der notierten sondern von der klingenden Zeit ausgeht.

Gerade hier aber setzt eine Gegenkraft in Gegenstück ein: es ist die Pause. Ihre Funktion ist es, ab einem bestimmten Zeitpunkt in Gegenstück (kurz nach der Hälfte) sich diesem immer gleichen Vermittlungsritual und dem dahinter verborgenen technischen Zwang zu widersetzen. Das Schweigen wird zum Ausdruck der Revolte, der Verweigerung gegenüber einem System, das alles durchdrungen hat und kontrollieren kann.
Dieses Schweigen breitet sich aus, wird dann wieder ‚übertönt‘, bis es sich am Schluss als ‚Schweigeminute für die Opfer des Faschismus‘ endgültig Bahn bricht.
Hintergrund davon ist ein weiterer Anlass für die Komposition von Gegenstück: es ist als Vorspiel gedacht für Intonation und Begleitsatz aus dem ‚Esslinger Orgelbuch‘ zu Lied 65 des Einheitsgesangsbuches. Verfasser des Liedtextes ist Dietrich Bonhoeffer, der im Frühjahr 1945 von den Nazis in Berlin ermordet wurde. Daher scheint es mir angemessen, auch außerhalb von einem liturgischen Rahmen nach dem Ende von Gegenstück und der ‚Schweigeminute‘ diese Intonation samt Begleitsatz zu spielen bzw. die Melodie mit dem Text Dietrich Bonhoeffers mitzusingen.

Stilistik Gegenstück

Viele nicht-tonale Einzelgestalten werden mittels algorithmisch komponierter Übergänge
miteinander verbunden; eine einzelne Gestalt davon ist ein Bach-Zitat aus einem
Choralvorspiel, das nach Ende des ‚Gegenstück‘ in ein eigenes tonales Choralvorspiel
eingebaut ist zu einer Choralmelodie auf einen Text D. Bonhoeffers. Diesem
Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Diktatur und allen seinen Unterstützern ist das Stück
gewidmet. Insofern könnte ‚Gegenstück‘ nicht nur für Experten interessant sein, sondern auch
für ‚normale‘ Zuhörer.

Aufnahme Gegenstück
Zuspielungen: Gegenstück (Download)

Die Filenamen-Liste ist gedacht für den Fall, dass die Zuspielung nicht mit dem Klangeditor-Programm Samplitude (Magix) wiedergegeben wird.

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