Esslinger Kaddisch

Vorwort

Georg Wötzer
Esslinger Kaddisch
für Streichquartett, Bariton / Tenor, Live-Elektronik und Dirigent

‚Esslinger Kaddisch ’ für Streichquartett, Bariton / Tenor, Live-Elektronik und Dirigent, im Jahr 2008 entstanden, liegt ein Gedicht des weißrussisch-polnischen Dichters Jizchak Katzenelson (1886-1944) zu Grunde, das er 1943/44 im KZ Vittel (Frankreich) geschrieben hatte. Es besteht aus fünfzehn Gesängen und handelt vom Untergang der europäischen Juden. Katzenelson selber war am Aufstand des Warschauer Ghettos beteiligt und wurde später in Auschwitz ermordet. Seine Dichtung verarbeitet das Furchtbare aus der Perspektive eigenen Erlebens.
Für die Komposition wurden vier Strophen aus dem ersten Gesang und die Schlussstrophe des letzten, fünfzehnten Gesanges der Dichtung, ausgewählt. Das Musikstück besteht aus vier großen Teilen, den letzten bezeichne ich als ‚Coda’. Im ersten Großteil werden vier Strophen aus dem ersten Gesang verarbeitet. Der zweite Teil ist ein Gesangssolo mit dem Text der Schlussstrophe des letzten Gesangs. Im dritten Großteil spielt nur das Streichquartett, und der vierte Teil, die ‚Coda’, beginnt mit der Schlüsselszene des ganzen Werks, einer elektronischen Zuspielung, zusammen mit Streichquartett und dem Sänger, dieser allerdings hauptsächlich Blockflötengeräusche produzierend.
Ungeheuer wichtig war mir, dass bei der ‚Vertonung’ dieses aufwühlenden Textes dessen Verständlichkeit unbedingt gewahrt bleiben musste. Daher werden im ersten (und zweiten Großteil) instrumentale und vokale Partien weitgehend voneinander getrennt. Im ersten Teil sind immer nur in jeder fünften Textzeile einer Strophe die Instrumente und der Gesang miteinander kombiniert, wobei nur die Konsonanten des Textes ‚gesungen’ werden (‚unverstehbar’). Dem vorausgeht derselbe Text als ‚normaler’ Gesang ohne Instrumente (‚verstehbar’).
Begleitet wird der Sänger im ersten Großteil von Live-Elektronik. Die Lautstärke der Singstimme, zusammen mit dem Tastendruck des Keyboard-Spielers, steuert einen komplexen elektronischen Synthese – und Modulationsprozess, dessen klangliches, in Echtzeit erzeugtes Resultat sowohl die Singstimme unterstützen als auch spätere Abschnitte (aus dem dritten Großteil des Stücks) klanglich vorbereiten soll.
Der zweite Großteil ist ein reines Gesangssolo. Es verwendet eine Kaddisch-Melodie, wie sie (z.B. in der Stuttgarter Synagoge) an jedem normalen Kabbalat Schabbat gesungen wird, allerdings hier kombiniert mit dem Text Katzenelsons, anstelle des zu erwartenden Kaddisch-Textes. Die einzelnen Teile dieser Kaddisch-Melodie liegen dem ganzen Stück zu Grunde. Insbesondere melodische und harmonische Strukturen wurden daraus entwickelt, unter Anwendung verschiedener nachserieller Kompositionstechniken. Dazu gehört auch Algorithmik, d.h., Computerprogramme zur Gestalt-Generierung und –Modifikation, aber auch zur Organisation einzelner Parameter-Ebenen, sowie der Erzeugung von Übergängen. Lediglich die ‚Coda’ ist ganz ‚von Hand’ komponiert, ansonsten sind an vielen Stellen des ganzen Stücks solche Algorithmen wirksam.
Der dritte Großteil, dem Gesangssolo folgend, führt Strukturen aus dem ersten Teil weiter, um dann, nach einem kurzen Halt (als Wendepunkt), dem Beginn der ‚Coda’ wie ein großer, mehrstufiger Übergang entgegen zu eilen.
Der Anfang dieser ‚Coda’ ist die Schlüsselstelle der ganzen Komposition. Durch elektronische Zuspielung von Eisenbahngeräuschen und dann von Kindergeschrei, entfaltet sich vor dem Hörer eine realistische, identifizierbare Klangszene, spukhaft in die bisherige scheinbar geschützte, hermetisch von der realen abgegrenzte Klangwelt des Stücks einbrechend und ebenso wieder verschwindend. Das Verhältnis zwischen akustischer und elektronischer Musik ist nun umgekehrt wie im ersten Großteil: war sie dort begleitend, in Abhängigkeit vom Sänger, fungieren nun die Spieler als Accompagnement eines für sie unbeeinflussbaren technisch-musikalischen Vorgangs. Nach Verstummen der Zuspielung führen die akustischen Instrumente jene begonnene Klangszene weiter, bis zum Schluss des Stücks.
Doch gibt es – neben diesen und anderen teilweise komplexen technologisch geprägten Strukturierungen – eine viel einfachere, geradezu ins Auge springende Handlungsebene, die aber, wie andere Ebenen auch, ebenso auf den Kern der Aussage zielen, und zwar die Theatralik. Sie entspinnt sich zwischen Sänger und Dirigent. Der Sänger will eine, vom Text ausgehende und die Musik als Transportmittel verwendende, Botschaft mitteilen, eigentlich eine Frage stellen mit tief pessimistischer Tendenz. Deren Relevanz wird aber für Dirigent und Spieler erst richtig erkennbar an jener Schlüsselstelle, dem Beginn der ‚Coda’ und ihrem Einbruch des ‚Realen’ in die scheinbar geschützte Sphäre edler Kunst.
Wozu dienen all die schönen, klugen Äußerungen des Geistes, virtuoses Geigenspiel, geniale technische Erfindungen und Entdeckungen und viele ungeheueren Kulturleistungen mehr, so lautet die Frage, wenn am Ende Auschwitz steht, oder gar die Selbstvernichtung der Menschheit. Warum gelingt es nicht nachhaltig, geistige Potenz und Ethos untrennbar miteinander zu verbinden?

Stilistik Esslinger Kaddisch

Mein erstes Stück mit jüdischen Bezügen. Polystilistisch ist das Zusammenwirken von
autonomer, teilweiser algorithmisch erzeugter Klangorganisation, Text und dessen Inhalt
(Auschwitz), Live-Elektronik, Szenerie und jüdische Liturgie. Eigentlich Expertenmusik,
aber durch Text, Szenerie und Elektronik auch für den musikalischen Laien verstehbar.

Zuspielungen: Esslinger Kaddisch (Download)

Das Stück verlangt, dass das Klangsynthese-Programm Reaktor Vers 5 bzw. 6 auf dem Rechner installiert ist. Die herunter zu ladende Datei ist eine Reaktor-Ens-Datei, die vor Beginn des Stückes gestartet werden muss. Weitere technische Details siehe Partitur!