Menetekel

Vorwort

Georg Wötzer
Menetekel – ein Musik-Video

Belschazar, ein altpersischer König, hielt ein Festmahl vor Tausenden, so berichtet das 5. Buch Daniel der hebräischen Bibel. Dort trank er frevelnd aus den heiligen Gefäßen des Tempels zu Jeruschalajim, welches sein Vater Nebukadnezar erobert hatte, um zu zeigen, dass seine Götter über den Gott Jisraels gesiegt hatten. Plötzlich erschien darauf eine Hand, die auf die Wand schrieb: ‚Mene, Mene, Tekel, Ufarsin‘. Keiner seiner Weisen konnte den Text deuten. Deshalb ließ er den Jehuditer Daniel holen, der ob seiner Klugheit und Fähigkeit, Rätsel (Knoten) zu lösen, berühmt war. Er weissagte Belschazar folgendermaßen: Gezählt (Gott hat dein Reich abgezählt und vollendet) – gewogen (du wurdest auf die Waage gelegt und zu leicht befunden) – geteilt (dein Reich wird geteilt in Madai und Paras). Und am selbigen Abend wurde Belschazar umgebracht. Menetekel steht also für die Weissagung eines Unterganges, zumindest für ein zukünftiges Unglück, entstanden aus unvernünftigem oder gesetzeswidrigem Handeln. Dies aber ist der Inhalt des Textteiles meines Musik-Videos (siehe Handblätter, Text). Doch ist die musikalische Form von Menetekel ziemlich eigenartig – sie besteht aus einem ständigen Wechsel zwischen reinen Musik- und Textteilen, die von einfachen Percussionsklängen begleitet werden. Noch eigenartiger ist die Herleitung solcher musikalischer Formkonzeption – ein Algorithmus, der eine Zahl so lange in vorgegebener mehrfacher Weise zerlegt, bis er zu einer Lösung gelangt und dabei normalerweise einen Rest erzeugt, der dem wohlgeordnet zerlegten fremd und ausgeschlossen gegenüber steht (Bsp.1, 2). 

Der so entstandene wohlgeordnete, ausgeglichene Baum dient zur Einteilung der Gesamtform von Menetekel, der ‚Rest‘ wird dazwischen geschoben. Musikalisch verwertbar ist das Modell erst im zweidimensionalen Raum. Die y-Achse repräsentiert gewissermaßen die Tasten eines Klaviers (von unten nach oben), die x-Achse die Abfolge der Anschläge auf bestimmten Tasten in der Zeit (Bsp.3). Verwendet man für die Tonhöhen statt Tasten ganze musikalische Gestaltungen, die analog zu den Tasten in gewisser Weise der ‚Höhe‘ nach vorgeordnet sind, erzielt man Gestalt-‚Melodien‘ bzw. Gruppierungen gemäß den Einteilungen durch den Algorithmus. Außerdem lässt sich so die Gegensätzlichkeit der Organisation zwischen Baum und Nicht-Baum realisieren. Die Nicht-Baum-Organisation folgt einem Algorithmus für gelenkten Zufall. Während der Baum sich potentiell immer weiter ausdehnt und wächst, spitzt sich die Gegenstruktur (mit dem Text und der Percussion) in der Höhe auf einen bestimmten Wert zu (Bsp. 3). 

Während die Baum-Struktur in 6-er Gruppen organisiert ist (Bsp.3), die sich außerdem zueinander gespiegelt verhalten, bildet die Höhenorganisation der Textschicht einen einheitlichen Prozess der Verengung, ohne sonstige innere Strukturierung. Kompliziert wird dies dadurch, dass die 6-er-Gruppen ineinander und mit der ‚Rest‘-Struktur verschachtelt sind (Bsp. 3). Nun ist ein Baum geradezu das Sinnbild für die Natur, und Zufall eher negativ besetzt als Auflösung von Ordnung oder Unordnung. Doch wird in Menetekel natürliche Ordnung und Abweichung davon durchaus anders interpretiert. Geometrische Organisation – insbesondere Symmetrie – hat auch exklusive, ja, geradezu unerbittliche Eigenschaften. Um sie zu erfüllen, kann sie nur so oder so sein, unbeirrbar und fühllos kalt in der Erfüllung ihres mathematischen Gesetzes. Demgegenüber trägt das Ungeordnete, von reiner Ordnung Abweichende, Unvollkommene, eher menschliche Züge. Daher wird der Text in Menetekel, bei dem es um menschliches Schicksal geht, dieser Zufallsstruktur zugeordnet, welcher – unberührt von den Aussagen des Textes – jene musikalisch autonome Organisation der symmetrisch im Gestaltraum angeordneten musikalischen Einheiten gegenübersteht.

 Oder einfacher gesagt: Der Natur ist das Schicksal der Menschen vollständig gleichgültig, keines ihrer Gesetze wird durch Fehlverhalten der Menschheit auch nur in der leisesten Form tangiert. Sie ist die Überlegene, wir nur ein Teil von ihr. Es ist daher die Aufgabe des Menschen – als Teil dieser Natur – ihre Gesetze zu erkennen und im Einklang damit vernünftig zu handeln. Jede Unvernunft, jede Zuwiderhandlungen gegen ihre Regeln haben unweigerlich negative Konsequenzen. Vielleicht ist noch interessant zu erwähnen, dass alles in Menetekel auf die physikalische Klanganalyse (Fast Fourier Analyse) eines bestimmten Wortes zurückgeht – Ejcha. 

Es ist der Beginn der Klagelieder Irmejahu, über die zerstörte und verlassene Stadt Jeruschalajim. Die aus der Analyse gewonnenen Frequenzen eines bestimmten Frequenzbereiches und dieser auf verschiedene weitere Bereiche transponiert, bildet das gesamte Frequenzmaterial der Komposition (Bsp4). Die musikalischen Gestalten in Menetekel wiederum sind ‚motivisch‘ abgeleitet aus den Teamim der Klagelieder. Dies sind Rezitationsformeln, in unserem Falle für die Klagelieder, im litauischen Stil (Bsp.5, 6). 

Die Rhythmen der Textpartien wiederum sind aus rhythmischen Ebenen und Zellen der Musikgestalten abgeleitet (Bsp. 7). 

Die Zeitorganisation folgt genau den vom Algorithmus vorgegebenen Zahlenwerten (Bsp. 8). 

Menetekel schließt musikalisch mit der originalen Rezitation (Kantillation) des Beginns von Ejcha, aus der Schlagzeugbegleitung der letzten drei Textabschnitte herauswachsend bzw. sich hin entwickelnd, in die Klage mündend um die zerstörte Stadt, zerstört oder untergegangen durch Zuwiderhandlungen gegen göttliche Gesetze. Deren elementarstes lautet: Leben muss Leben weitergeben. Die Alternative dazu ist – der Tod.

Stilistik Menetekel

Komplexe, algorithmisch erzeugte Musikstruktur steht klarer, verstehbarer Texthandlung gegenüber, das ganze eingebettet in einen einseitig gerichteten visuellen Prozess, der an eine biblische Geschichte erinnert. Eigentlich eine Expertenmusik, durch den Text und die visuelle Entwicklung aber vielleicht auch für Musik-Laien interessant.